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ultra liquida

Unsere Gegenwart scheint durch eine Geschwindigkeit gekennzeichnet zu sein, die nicht mehr durch die Naturgesetze bestimmt wird, sondern durch vom Menschen diktierte, veränderte und gedehnte Rhythmen, die unsere Existenz schnell, ultraschnell machen. Wie ein überschwemmter Fluss, der flüssig und unaufhaltsam fliesst. In den letzten Jahrzehnten haben zahlreiche Wissenschaftler versucht, die Epoche der Spätmoderne oder Postmoderne zu analysieren und zu definieren, die aus dem Fall der Berliner Mauer, der Globalisierung, dem Massenkonsum, der Verdrängung und der Technologie hervorgegangen ist.

Der polnische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman (Poznań, 1925 – Leeds, 2017), einer der grössten Denker unserer Zeit, hat in seinen zahlreichen Schriften auch über die Epoche, in der wir leben, nachgedacht und dabei ein sehr präzises Merkmal herausgearbeitet. Um die Gesellschaft zu beschreiben, die zwischen dem Ende des 20. Jahrhunderts und dem neuen Jahrtausend entstanden ist, veröffentlichte Bauman die Liquid modernity (2000, LaTerza) und prägte die Metapher der Liquidität. Nach der Klassifikation der Aggregatzustände der Materie zeichnen sich flüssige Stoffe durch ihre Wandlungsfähigkeit und ihre Tendenz aus, sich ständig zu verändern und je nach dem Behälter, der sie umschliesst, unterschiedliche Formen anzunehmen. Wie bei den Flüssigkeiten ist es gerade das Werden und der ständige Wandel, der unsere Zeit kennzeichnet. Eine Flüssigkeit, die im Gegensatz zur Festigkeit des letzten Jahrhunderts steht, als es scheinbar grössere Gewissheiten gab, auch was die Zukunft anbelangt. Und obwohl das 20. Jahrhundert das Zeitalter der Emanzipation war, hat sich das Problem der Ungleichheiten damit nicht erledigt und neue Unbekannte hervorgebracht, die auf unsere Gegenwart projiziert werden. Für Bauman gehören wir zu einer Realität, die von Ungewissheit, Fragilität und Prekarität geprägt ist. Diese Merkmale sind in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu finden, wie etwa in der Arbeitswelt und in den zwischenmenschlichen Beziehungen, von denen die neuen Generationen am stärksten betroffen sind. Ein scheinbar negativer gesellschaftlicher Zustand, dem jedoch eine Freiheit gegenübersteht, die in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist. Eine Freiheit, die sicherlich Orientierungslosigkeit hervorruft, die aber als Instrument der Verantwortung und der Wahl genutzt werden kann, um aktiv an unserer Zukunft teilzuhaben.

Ultra liquida lässt sich gerade von der Komplexität unserer Gegenwart und von bestimmten Themen und Fragen inspirieren, die mit unserer Zeit verbunden sind. Ein Ausstellungsprojekt, das darauf abzielt, zu zeigen, dass die Gegenwart - vielleicht in einigen Fällen auch schon die Vergangenheit - und die Kunst zwei Welten sind, die eng miteinander verbunden sind. Unter Ausnutzung der länglichen Architektur des Torre dei Forni wird die Ausstellung aus drei Hauptachsen entwickelt, die nach einer ganz persönlichen Überlegung ausgewählt wurden, die sich miteinander überschneiden und neue, wechselnde und schwer fassbare Überlegungen hervorbringen, Themen, die Fragen über die Welt und die Art, wie wir leben, aufwerfen. Ultra liquida hat den Wunsch, jungen Menschen eine Stimme zu geben, die der Vergangenheit und ihren Fehlern verfallen sind, aber auch aktive Protagonisten, die in den letzten Jahren große Sensibilität für ihr Schicksal gezeigt haben. Es handelt sich um ein multidisziplinäres Projekt, das auf eine Vielzahl von künstlerischen Sprachen abzielt und Kunstwerke, Designobjekte und architektonische Reflexionen bietet. Ein Kernstück unserer Zeit, das sicherlich nicht erschöpfend ist, aber durch das wir uns Zeit nehmen können, um nachzudenken und Fragen zu unserer Gegenwart und Zukunft zu stellen. Ultra liquida ist, wie unsere Gesellschaft, auch ein metaphorischer Wunsch für die nächsten Generationen, damit sie friedlich dem Fluss des Lebens folgen können.

Dieses Ausstellungsprojekt wurde in Zusammenarbeit mit dem Lausanner Kollektiv La love machine konzipiert und befasst sich mit Fragen im Zusammenhang mit dem digitalen Zeitalter, der Identität und der Umwelt. Die an der Ausstellung beteiligten Künstler*innen sind Dario Aguet, Eden Levi Am, Rémy Bender und Basile Richon, Delfino Fidel, Quark, Mahalia Taje Giotto, La Love Machine und Aurélie Vial, Mirta Lepori, Elena Lurati und Sofia Lurati und Achille Masson.

 

NEBENVERANSTALTUNGEN  

30.09 – H. 18 Vernissage Ausstellung mit DJ-Set von 783 Nora Asteroid und Street Food von Grotto del Mulino

14.10 – H. 16 Führung durch die Ausstellung mit Apero

21.10 – H. 14.30 Führung durch die Ausstellung mit anschliessender Konferenz "Ricerche in corso", organisiert mit AsaSi (Associazione delle storiche e degli storici dell’arte della Svizzera Italiana) im Mulino del Ghitello (Sala del Frantoio, wir werden gemeinsam von Saceba umziehen). Im Anschluss gibt es einen kleinen Apero :)

 

Die Ausstellung ist jedes Wochenende von 13.00 bis 18.00 Uhr geöffnet und der Eintritt ist frei. Wir freuen uns auf eure Besuch!

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via vai (via)

WIR SIND UNS EINIG, DASS DAS, WAS MIT DEN TÄLERN GESCHEHEN IST, EIN MEHR ALS LEGITIMES PHÄNOMEN IST. UND ES IST NICHT NUR DIE GESCHICHTE DER TÄLER HIER, SONDERN DIE DES GANZEN KANTONS UND ZWEIFELLOS AUCH DIE ANDERER LÄNDER. SEIT ANFANG DES LETZTEN JAHRHUNDERTS FÜHLEN SICH TÄLER WIE DIESES VON IHREN MAUERN UND BÄCHERN ENTLEERT. ALSO, AUS HEITEREM HIMMEL. SIE HABEN ABSCHIEDE ERLEBT, VERSPRECHEN GEHÖRT, TRÄNEN GESEHEN, SO LANGE AUF DIE RÜCKKEHR GEWARTET. ES GAB KEIN GLÜCK IN DEN BERGEN, UND SO MUSSTEN DIE MENSCHEN, DIE DORT LEBTEN, ENTSCHEIDUNGEN TREFFEN, OFT SEHR SCHWERE. OFT FANDEN SIE SICH WEIT WEG, SOGAR AUF DER ANDEREN SEITE DES OZEANS WIEDER. EIN KOFFER MIT ZWEI LAPPEN UND ETWAS HOFFNUNG, AUF DEM WEG, UM AN ANDEREN ORTEN IHR GLÜCK ZU SUCHEN. EINIGE SAHEN SICH WIEDER, ANDERE WER WEISS. DAS TAL WURDE MIT SEINEM ECHO, DAS JAHRELANG IN IHM NACHHALLTE, ALLEIN GELASSEN. ES IST JEDOCH SELTSAM, WENN MAN BEDENKT, DASS HEUTE DIEJENIGEN, DIE AN EINEM ANDEREN ORT ALS DEM TAL GEBOREN WURDEN, DORTHIN GEHEN, UM ZUFLUCHT UND VOR ALLEM SCHUTZ VOR DER UNGEDULD DER GESELLSCHAFT ZU SUCHEN. MAN NÄHERT SICH DEN GESCHICHTEN SEINER AHNEN, SEINEN WURZELN, DEM EINFACHEN LEBEN, DEM LERNEN VON DER NATUR. EINE GROSSE RÜCKKEHR ZUM BERG, DER LETZTLICH DIE ERDE IST, DIE LETZTLICH DAS LEBEN IST.

Aus der Idee einer Rückkehr zum Leben in den Tälern entsteht via vai (via), ein Ausstellungsprojekt, das von Associazione +41 auf Einladung der APS (Associazione Percorsi Culturali) kuratiert wird. Anna Malina Jaun, Kevin Carrozzo und Anjesa Dellova führen in den ländlichen Ecken des Dorfes Sagno (TI) einen Dialog über das ausdrucksstarke Medium der Malerei, das dieses Mal allen dreien gemeinsam ist. Die Künstler*innen, die ihre Erfahrungen, ihre Figuren und ihre Individualität aus den urbanen Zentren Bern, Lugano und Lausanne mitbringen, geben ihrer Kunst die Möglichkeit, neuen Geschichten und Landschaften zu begegnen, und umgekehrt dem Publikum, andere Welten, andere Identitäten und andere Lebensorte zu entdecken. Neue Perspektiven sind willkommen an einem Ort, der die Einflüsse von aussen kennenlernt, ihre Lehren schätzt und sie im Hinblick auf die Rückkehr derer pflegt, die weggegangen sind und vielleicht bald wiederkommen.

Ausstellung kuratiert von Associazione +41 auf Einladung der Associazione Percorsi Culturali anlässlich der Veranstaltung BreggiArte.

KÜNSTLER*INNEN IN DER AUSSTELLUNG

Anna Malina Jaun (*1992) ist eine Schweizer Künstlerin, die in Ins, Kanton Bern, lebt und arbeitet. Nach einem Bachelorstudium in Vermittlung in Kunst und Design an der HKB in Bern setzte sie ihr Studium in einem Masterstudiengang in Kunst- und Kulturvermittlung fort. Ihre künstlerische Praxis reicht von der Malerei und Zeichnung bis hin zum Bereich der Performance. Zu ihren wichtigsten Ausstellungen gehören: Ohne Titel, Junge Malerei aus Süddeutschland und der Deutschschweiz, Kunstmuseum Singen (Singen (DE), 2022), MUSIC IS MY BEACH HOUSE, Outside Rohling (Bern, 2019), Cantonale Berne Jura 2019, Kunsthaus Centre d'art Pasquart (Biel, 2019) und JKON 2019 (Olten, 2019).

Kevin Carozzo (*1998) ist ein Schweizer Künstler, der in Lugano lebt und arbeitet. Nach seinem Abschluss an der CSIA in Lugano konnte er sich in der Tessiner Kunstszene schnell einen Namen machen, mit verschiedenen Werken, die in La Straordinaria (Lugano, 2023), im Quartiere Maghetti (Lugano, 2022), im Lido San Domenico (Lugano, ab 2020), im Morel (Lugano, 2020), im Cerchio91 und im Lugano Bella-Container (Lugano, 2019) ausgestellt wurden. Einige seiner Werke wurden in China, auf der Hangzhou Cultural and Creative Industry Expo, präsentiert. Derzeit schwankt sein künstlerischer Weg zwischen Skulpturen und dem Experimentieren mit neuen Materialtechniken, die oft recycelt oder kostengünstig sind.

Anjesa Dellova (*1994) ist eine Schweizer Künstlerin, die in Lausanne lebt und arbeitet. Sie schloss 2017 ihr Studium an der l'ECAL in Lausanne ab, wo sie mit verschiedenen Ausdrucksmitteln wie Fotografie, Video und Malerei experimentierte. Später beschloss sie, sich ganz der Malerei zu widmen, indem sie sich an der HEAD in Genf in einen Kurs für visuelle Künste einschrieb; hier entwickelte sie ihre eigene Technik, die sie "Frottage" nennt, während sie die Fotografie als Forschungsmedium beibehielt. Im Jahr 2022 erhielt sie den Kiefer Hablitzel | Göhner Preis und den Alice Bailly Preis 2023. Dellova präsentierte und präsentiert ihre Arbeiten in zahlreichen Ausstellungen und Institutionen: in der National Gallery of Kosovo (Pristina, 2023), Centre d'Art Contemporain d'Yverdon (Yverdon, 2023), Mayday (Basel, 2023), Tunnel Tunnel (Lausanne, 2023), Jungkunst 2022 (Winterthur, 2022) und La Printanière (Lausanne, 2019).

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visiona vol. 2

ASSOCIAZIONE +41 FREUT SICH, FÜR DIE FRÜHJAHRSSAISON 2023 VISIONA VOL.2 ANZUKÜNDIGEN, DIE ZWEITE AUSGABE IHRES FILMFESTIVALS, DAS DEM JUNGEN SCHWEIZER KINO GEWIDMET IST. IM RAHMEN DES HAUPTZIELS DES VEREINS, BRÜCKEN UND SYNERGIEN ZWISCHEN DEN VERSCHIEDENEN REGIONEN DER SCHWEIZ ZU SCHAFFEN, WILL VISIONA VOL.2 EINE GELEGENHEIT FÜR JUNGE CINEAST*INNEN AUS DER GANZEN SCHWEIZ SCHAFFEN, SICH ZU TREFFEN. IM RAHMEN EINES OPEN-AIR-KINOABENDS WERDEN DIE FILME VERSCHIEDENER FILMEMACHER*INNEN GEZEIGT, DIE AN EINIGEN DER WICHTIGSTEN SCHWEIZER FILMSCHULEN AUSGEBILDET WURDEN: ECAL (LAUSANNE), ZHDK (ZÜRICH), HEAD (GENF), CISA (LOCARNO).

Im Einzelnen werden die folgenden Kurzfilme gezeigt:

(1) NINA — REGIE: CHIARA TOFFOLETTO, 2022. 
Produziert von CISA [Conservatorio Internazionale di Scienze Audiovisive] und ventura film. 18 min, Italienisch.

Während eines tristen Frühlingstages mit Spielen, Verkleidungen und Wünschen beschließen Nina und ihre Freundinnen Cora und Bea, einen Pakt zu schließen. Sie müssen Jungs finden und zum ersten Mal Sex haben. Am gleichen Tag, zur gleichen Zeit.

(2) DER INHALT EINES BÜNZLIS — REGIE: LARS WICK, 2022.
Produziert von der ZHdK [Zürcher Hochschule der Künste]. 10 min, Deutsch-Schweiz.

Frau Bünzli will ihre ungenutzte Wohnung auf keinen Fall Flüchtlingen zur Verfügung stellen, obwohl sie durch ein neues Gesetz dazu verpflichtet ist. Als die Behörden immer näher an sie herankommen, scheitern ihre Versuche, das leere Zimmer mit einer vertrauten Person zu füllen. Frau Bünzli greift daraufhin zu unkonventionellen Methoden.

(3) DER MOLCHKONGRESS — REGIE: MATTHIAS SAHLI UND IMMANUEL ESSER, 2022. 
Produziert von der ZHdK [Zürcher Hochschule der Künste]. 16 min, Deutsch.

Riesige sprechende Salamander, scheinbar erst kürzlich entdeckt, werden seit Jahren vom Menschen als Arbeitskräfte und Versuchstiere ausgebeutet. An einer Konferenz in einem von Natur umgebenen Gebäude wird die Ausbeutung dieser Tiere diskutiert.

(4) À LA DÉRIVE — REGIE: MARION REYMOND, 2022.
Produziert von der ECAL [Ecole Cantonale d'art de Lausanne]. 13 min, Französisch.

Eine junge Pflegerin flüchtet sich in die Welt der Fantasie, um den Schmerz über den Verlust ihrer Mutter zu verarbeiten und der Routine des Pflegeheims, in dem sie arbeitet, zu entkommen.

(5) LA VÉRITÉ SUR ALVERT, LE DERNIER DODO — REGIE: NATHAN CLEMENT, 2023.
Produziert von HEAD [Haute école d'art et de design - Genève]. 16 min, Kreolisch.

Auf der Insel Reunion versuchen Lunet und sein Grossvater Dadabé, eine Henne in einen Dodo zu verwandeln, dessen magische Federn die schwerkranke Mutter des Jungen retten könnten.

(6) L'AZZURRO DEL CIELO — REGIE: ENEA ZUCCHETTI, 2019.
Produziert von Enea Zucchetti. 10 min.

Eine stille, auf mysteriöse Weise menschenleere Stadt wird von einem Mann durchquert, der aus einem fernen Land gekommen ist.

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soplo

Das zweite Ausstellungsprojekt von +41, SOPLO, wird in den Räumen der ehemaligen Zementfabrik Saceba in Morbio Inferiore präsentiert und bringt die Werke von vier Künstler*innen aus verschiedenen Teilen der Schweiz zusammen.


NACH DER ANIMISTISCHEN AUFFASSUNG (1) DER WIRKLICHKEIT IST JEDES LEBENDE UND NICHT LEBENDE WESEN, JEDES OBJEKT, JEDES DING AUF DER ERDE MIT EINER SEELE AUSGESTATTET, DIE ES IHM WIEDERUM ERMÖGLICHT, PNÈUMA, DAS LEBENSSPENDENDE PRINZIP DER WELT, ZU BESITZEN. EIN PHILOSOPHISCHER BEGRIFF, DER SEMANTISCH MIT DER SEELE VERWANDT IST. DER AUSDRUCK PNÈUMA BEZEICHNET NACH DER GRIECHISCHEN TERMINOLOGIE DIE BEWUSSTE VITALE URSACHE EINES JEDEN ORGANISMUS AUF DEM PLANETEN.

DEM ITALIENISCHEN PHILOSOPHEN UND DENKER EMANUELE COCCIA ZUFOLGE HAT PNÈUMA DAGEGEN EINEN SEHR DIREKTEN BEZUG ZUM BEGRIFF DES ATEMS: ATMEN BEDEUTET, DASS DAS, WAS UNS NORMALERWEISE ENTHÄLT, NÄMLICH DIE LUFT, IN UNS ENTHALTEN WIRD UND UMGEKEHRT DAS, WAS WIR ENTHALTEN, ZU DEM WIRD, WAS UNS ENTHÄLT. NACH DIESER LEBENSAUFFASSUNG BEDEUTET ATMEN ALSO EIN EINTAUCHEN IN DIE UMWELT, DIE UNS MIT DER GLEICHEN INTENSITÄT DURCHDRINGT, MIT DER WIR SIE DURCHDRINGEN (2).


Jede Existenz, die aus dieser Perspektive verstanden wird, beinhaltet daher eine aktive Teilnahme an der Schöpfung des Planeten und seiner Kontinuität in der Geschichte des Universums. Jeder Ort, also jeder Raum, in dem sich Alles aufhält, wird als Teil dieses Imaginären betrachtet, ebenso wie jedes Artefakt, das aus den Händen von Frauen und Männern stammt, ebenfalls Teil dieses Imaginären ist. So kommt es häufig vor, dass inmitten der Natur mit ihren Flüssen, Steinen und Pflanzen verschiedene künstliche Orte entstehen und sich entwickeln, die, sobald sie sich gebildet haben, die Lebensenergie und den Atem von Mutter Erde in sich aufnehmen.

Dies ist der Fall beim Bau der ehemaligen Zementfabrik Saceba in Morbio Inferiore, die in den 1960er Jahren im wunderschönen Parco delle Gole della Breggia errichtet wurde und bis Anfang des 21. Jahrhunderts in Betrieb war. In einem rein natürlichen Kontext entstanden, liess diese Fabrik Menschen und natürliche Materialien in sich selbst koexistieren, die sich unaufhörlich um und in der grauen Betonstruktur bewegten. Das Erscheinungsbild der Landschaft am Fusse des Tals, das den Fluss Breggia aufnimmt, hat sich nach der Ankunft der Fabrik radikal verändert, da die vom Menschen eingebrachte Technik mit der seit Millionen von Jahren vorhandenen Natur verschmolzen ist. Nun, da dieser Ort gefallen ist, ist das, was von ihm übrig geblieben ist - ein einziger Turm -, seiner Seele beraubt und von dem, was ihn immer eingenommen und am Leben erhalten hat, entleert. An diesem Ort treffen sich also vier Künstler*innen aus der ganzen Schweiz, stellen Verbindungen her und projizieren sich in eine imaginäre Welt, in der Leben, Atem, Geburt und Bewegung miteinander verwoben sind, mit dem Ziel, dieses grosse Fossil, das sich eines Tages seelenlos selbst zementiert hat, wieder zum Leben und zum Atmen zu bringen.
An diesem Ausstellungsprojekt nehmen teil: Oliver Brunko, multidisziplinärer Künstler aus der deutschen Schweiz; Arunà Canevascini, multidisziplinäre Künstlerin aus dem Tessin; Sebastián Dávila, multidisziplinärer Künstler aus der französischen Schweiz und Noëmi Gamma, multidisziplinäre Künstlerin aus der deutschen Schweiz.


DURCH UNTERSCHIEDLICHE DENKWEISEN, AKTIONEN UND KÜNSTLERISCHE MEDIEN WERDEN DIE AN DER AUSSTELLUNG TEILNEHMENDEN KÜNSTLER*INNEN VERSCHIEDENE ASPEKTE DES KONZEPTS VON PNÉUMA UNTERSUCHEN UND INTERPRETIEREN. DAS ZIEL VON SOPLO IST ES ALSO, VERSCHIEDENE REALITÄTEN UND PERSÖNLICHKEITEN ZUSAMMENZUBRINGEN, DIE IN EINEM STÄNDIGEN DIALOG DIE RÄUME DES EHEMALIGEN ZEMENTWERKS SACEBA IN MORBIO INFERIORE WIEDER ZUM LEBEN ERWECKEN.


(1) Dieser Begriff bezieht sich auf den 1871 von dem englischen Anthropologen E. B. Tylor (1832 - 1917) eine ursprüngliche Form der Religiosität zu bezeichnen, die auf der Zuschreibung eines unkörperlichen und vitalen Prinzips (eben der Seele) an Naturphänomene, Lebewesen und Gegenstände, die von vielen als unbelebt angesehen werden, beruht; alles, was als belebt anerkannt wird, ist daher mit Formen der Verehrung verbunden, die oft direkt für das Gelingen von Handlungen des täglichen Lebens funktional sind.

(2) Überlegungen und Konzepte aus Emanuele Coccia, La vita delle piante. Metafisica della mescolanza, Il Mulino, Bologna, 2018.

 (02)

visiona vol. 1

VISIONA IST EIN FILMABEND: 7 FILME VON JUNGEN REGISSEURINNEN, DIE AN DEN WICHTIGSTEN FILMSCHULEN DER SCHWEIZ (HEAD, ECAL, ZHDK UND CISA) AUSGEBILDET WURDEN, WERDEN IM WUNDERSCHÖNEN PARK DER BREGGIA-SCHLUCHT PRÄSENTIERT. DIE FILME WERDEN IN IHRER ORIGINALSPRACHE MIT ENGLISCHEN UNTERTITELN GEZEIGT. FREIER EINTRITT!

(01)

C’era una volta la Pangea

Der Begriff Pangaea leitet sich aus dem Altgriechischen ab und bedeutet “die ganze Erde”. Im Bereich der Geologie wurde diese Bezeichnung zu Beginn des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts vom deutschen Geologen und Wissenschaftler Alfred Wegener eingeführt, der als Erster die Theorie des Superkontinents formulierte. Vor etwa 250 Millionen Jahren waren die heutigen Kontinente zu einer einzigen Erdoberfläche gruppiert und vom Pantalassa-Ozean umgeben. Es kam zu einer geologischen Zersplitterung der Erdoberfläche, als sich die Kontinentalplatten zu bewegen begannen. Dieser Vorgang wird auch als “Plattentektonik” bezeichnet, der den heutigen Status Quo der Erdoberfläche definiert hat.

“C’era una volta la Pangea” ist ein Ausstellungsprojekt, das von dem metaphorischen Bild des Superkontinents inspiriert ist. Einem Symbol, das Einheit und Zusammenhalt widerspiegelt. Durch die Übertragung dieses Konzepts von “einem Ganzen” auf einen kleineren Rahmen will die Ausstellung eine Reflexion über die aktuelle Situation der Kultur und der zeitgenössischen Kunst in unserem Land aufzeigen.

Die Schweiz ist ein Land, das jedoch durch die internen Grenzen teilweise zersplittert ist, was das Gegenstück zum metaphorischen Konzept einer Pangaea darstellt.

Das Modell der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist eines der wenigen Beispiele in der Welt, welches verschiedene Realitäten in einem einzigen Territorium zusammenfasst und nebeneinander koexistieren lässt. Die tatsächliche Existenz der helvetischen nationalen Identität hat in den vergangenen Jahren unterschiedliche Fragen aufgeworfen; etwa in den 1980er Jahren wurde die ideologische Konstruktion des Sonderfalls (1) durch die Veröffentlichung der Bände “Nuova storia della Svizzera e degli svizzeri” (Verlag Giampiero Casagrande, 1983) in Frage gestellt. Die Autoren schufen einen neuen historiographischen Ansatz, der darauf abzielte, die Frage der nationalen Einzigartigkeit im Zusammenhang mit den transnationalen Beziehungen zu anderen europäischen Ländern kritisch neu zu interpretieren. Daraus konnte abgeleitet werden, dass die Schweiz einen Sonderfall darstellt, die neben der sprachlichen Heterogenität auch Unterschiede auf der kulturellen Ebene aufweist. Bräuche, Sitten, soziale Beziehungen, Essgewohnheiten und vieles mehr spiegeln die Diversität in der Schweiz vom Norden bis Süden und Osten nach Westen wider.

Jene nationale Fragmentierung wird auch im Bereich der zeitgenössischen Kunst stark wahrgenommen. Die Mission der Ausstellung ist es daher, die Werke verschiedener junger Schweizer KünstlerInnen aus unterschiedlichen Regionen in einem einzigen Raum zusammenzubringen, mit dem Ziel, einen kulturell verbindenden und integrativen Ort des Zeitgenössischen zu schaffen.

Die erste von +41 organisierte Ausstellung “C’era una volta la pangea” will den Austausch zwischen jungen KünstlerInnen aus verschiedenen Kantonen des Landes fördern und in der Rolle eines symbolischen Manifests neue Verbindungen schaffen sowie versuchen, die interkulturellen Barrieren in der Schweiz zu überwinden.

(1)  Das Konzept des Sonderfalls ist ein in der Schweiz entwickeltes ideologisches Konstrukt. Sie stützt sich auf eine Reihe von Besonderheiten, um sich als Nation zu repräsentieren und zu charakterisieren. Die Grundsätze der Neutralität, der Freiheit und der Unabhängigkeit sind einige der Elemente, auf denen sich die nationale Identität der Schweiz entwickelt hat und die zur Entstehung einer Vision des Bundesstaates als Sonderfall im Vergleich zu allen europäischen Staaten geführt haben. Die Frage nach einer tatsächlichen schweizerischen Identität ist jedoch seit der Neuzeit eine Quelle historiographischer Debatten, die die tatsächliche Existenz des Sonderfalls und damit einer spezifischen schweizerischen Identität immer wieder in Frage stellen.